Die Bibliothek

Bei der Marienkirche besteht seit der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts eine Bibliothek, deren Bestände heute in der St. Gertraudkirche aufbewahrt werden. Trotz der Schäden nach der Zerstörung der Kirche, in deren Turm sich die Marienbibliothek befand, am Ende des 2. Weltkrieges im April 1945, sowie Verlusten in den Wirren der Nachkriegszeit und späteren Aussonderungen umfasst sie heute über 800 Titel, die vor der Mitte des 19. Jahrhunderts gedruckt wurden. Darunter sind 43 Handschriften und Drucke, die bis zum Jahr 1500 entstanden sind.

Der Bibliotheksbestand ist inhaltlich breit gefächert. Bis 1500 dominieren theologische Schriften, Meßbücher und Antiphonarien des katholischen Gottesdienstes, Bibeln, Werke der Kirchenväter und ähnliches, z.B. Aurelius Augustinus‘ Werk über die Paulusbriefe (1499), die »Sentenzen« des Petrus Lombardus (1500), die »Legenda aurea« des Jakob von Voragine (1490).
Das 16. Jahrhundert wird von Werken des Reformators Dr. Martin Luther dominiert – von der unscheinbaren frühesten, von Luther 1516 herausgegebenen Schrift über die erste vollständige Bibelübersetzung, gedruckt bei Hans Lufft in Wittenberg 1534 (gekauft vom damaligen Bürgermeister Riebe und mit handschriftlichen Eintragungen über den Verlauf der Reformation in Frankfurt 1539 versehen) bis zur vielbändigen Jenaer Gesamtausgabe der Werke Luthers (ab 1557). Ein Schatz ist die handschriftliche Widmung Luthers in einer Bibel von 1544, geschrieben 1545, sowie einer zweiten von Philipp Melanchthon. Daneben befinden sich renaissancetypisch – die Werke antiker griechischer und römischer Dichter und Philosophen, von Aristoteles, Homer, Demosthenes bis Ovid und Cicero, naturwissenschaftliche Werke, wie die »Ephemeriden« des Regiomontanus (1498) oder ein Kräuterbuch von 1582, rechtswissenschaftliche Schriften, wie der »Sachsenspiegel« u.v.a.m.

Ab dem 17. Jahrhundert bilden Erlasse und Verordnungen der Obrigkeiten, Nachrichten über Ereignisse und Merkwürdigkeiten, Schriften der Universität Viadrina, außerdem Frankfurter und brandenburgische Chroniken von Jobs, Beckmann, Angelus, Hafftitz und anderen, einen großen Teil des Bestandes. Die »wahre Eigentliche und gründliche Beschreibung des Zustandes der Chur Brandenburg« von Peter Hafftitz aus dem Jahre 1595 ist eine Handschrift mit dem Vermerk, dass sie niemals gedruckt worden sei. Das älteste Buch der Marienbibliothek entstand um1430, ein prächtig geschmücktes Meßbuch, wahrscheinlich in St. Marien benutzt.
Zu den bedeutendsten sind die drei Bände der »Summa theologia« des Thomas von Aquin (1225-1274) zu zählen, die die theologisch- philosophischen Erkenntnisse dieses herausragenden Theologen des Mittelalters enthalten. Der 2. Band ist spätestens 1463 von Mentelin in Straßburg gedruckt, also noch zu Lebzeiten des Erfinders des Druckens mit beweglichen Lettern, J. Gutenberg. Der 1. und 3. Band sind Handschriften, bis 1470 von zwei Mönchen für St. Marien angefertigt.
Als das merkwürdigste Buch kann ein katholisches Meßbuch aus der Zeit vor 1500 gelten, in das von einem der ersten evangelischen Prediger der St. Marienkirche der deutsche Text der Lutherischen Einsetzungsworte des Abendmahls handschriftlich auf einem eingeklebten Blatt eingetragen wurde.
Die schönsten Bücher des Bestandes sind zwei Prachtbände aus der Werkstatt von Anton Koberger, Nürnberg, eines der führenden europäischen Druckverlegers seiner Zeit. Es sind die »Biblia nona Germanica«, 1483 in deutscher Sprache gedruckt, und die Erbauungsschrift von 1491 »Schatzbehalter oder Schrein der wahren Reichtümer des Heils und ewigen Seligkeit«. Beide sind reich mit handkolorierten Holzschnitten der berühmten Nürnberger Holzschneider Michael Wohlgemut und Wilhelm Pleydenwurff ausgestattet. Wohlgemut war der Lehrmeister Albrecht Dürers.
Die Bestände sind nach Vereinbarung in den Räumen der St. Gertraudkirche eingeschränkt nutzbar. Eine Ausleihe findet nicht statt. Der Förderververein gestaltet jährlich kurzzeitige thematische Ausstellungen.

Werner Mandel